Dysphagie-Management

Von der Evidenz zur Implementierung in der Praxis

Übersetzung eines Blogs von Dr. Phyllis M. Palmer & Aaron H. Padilla, MSc, zwei amerikanischen Logopäden/Sprachpathologen

 

Der Blog ist erschienen auf der Webseite "Swallow Study.com" von Karen Sheffler, welche Informationen für Fachleute und Menschen mit Schluckstörungen bietet. 

 

HERZLICHEN DANK an Phyllis, Karen und Aaron für die grossartige Überstützung bei diesem News-Artikel!

 

Umfassende und mehrstufige Dysphagie-Evaluierungsschritte mit einem personenzentrierten Ansatz sind von entscheidender Bedeutung, um "klinische Richtlinien für das Management von Personen mit Dysphagie bereitzustellen", wie Palmer und Padilla in ihrem 2021 erschienenen Tutorial im American Journal of Speech-Language Pathology (Artikel nicht open access) anmerken.

 

Das B-O-L-U-S-System für die therapeutische Entscheidungsfindung bei Dysphagie

Stellen Sie sich vor, Sie haben Ihre umfassende Dysphagieabklärung abgeschlossen, bei der auch Aspiration festgestellt wurde. Was nun? Lassen Sie es nicht dabei bewenden, denn es gibt noch viel mehr zu bedenken.

Das Forschungslabor für Schluckstörungen der Universität von New Mexico hat anhand von Fakten einen Rahmen für die Risikoabwägung bei der Arbeit mit Personen mit prandialer, also Dysphagie-assoziierter Aspiration  vorgeschlagen. 

 

 Nachfolgend die fünf wichtigsten Erkenntnisse:

 

Punkt 1

Es gibt seit über drei Jahrzehnten überzeugende Fakten, die eine Orientierungshilfe für klinische Entscheidungen über die sichere Nahrungsaufnahme (NPO vs. orale Aufnahme) von Personen mit prandialer Aspiration bieten. Diese Daten umfassen Faktoren, die über das Vorhandensein einer Aspiration hinausgehen, und betonen, dass die Aspiration allein nicht ausreicht, um ein unerwünschtes Ereignis (Aspirationspneumonie, akutes Atemnotsyndrom, Lungenfibrose und sogar Tod) zu verursachen. Obwohl dies in der Literatur nicht belegt ist, gibt es immer noch Fälle, in denen NPO (= nihil/non/nulla per os = Nahrungskarenz) auf der Grundlage des Vorhandenseins einer Aspiration empfohlen wird, ohne die Fähigkeit der Person, eine Aspiration zu tolerieren, eingehend zu prüfen." (Palmer & Padilla, 2021a, S. 1)

Punkt 2

Die Reaktion der Lunge auf Aspiration spielt eine wichtige Rolle für das Risiko des Auftretens einer Aspirationspneumonie oder anderer negativen Konsequenzen. Das Mikrobiom einer gesunden Lunge wird durch ein Gleichgewicht zwischen Einwanderung (Eindringen von Nahrung, Flüssigkeit, Speichel oder Mageninhalt, die Krankheitserreger oder chemische Reizstoffe enthalten) und Ausscheidung (individuelle Reaktion und Abwehrkräfte des Wirts auf Bakterien und anderes Material) aufrechterhalten. (Siehe Abbildung 1 und unterstützende Zitate in Palmer & Padilla, 2021a).

 

Bei gesunden Menschen erfolgt die Eliminierung von Bakterien durch eine Kombination aus Phagozytose und mukoziliärer Clearance.

 

  • Die Phagozytose ist ein Abwehrmechanismus, bei dem Makrophagen eingesetzt werden, um fremdes Material zu verschlingen und zu beseitigen.
  • Die mukoziliäre Reinigung findet statt, wenn die Schleimschicht auf der Oberfläche der Atemwege das Aspirat einfängt und durch die Bewegungen der Flimmerhärchen aus den Atemwegen transportiert.

Ein Ungleichgewicht zwischen der Einwanderung von Bakterien oder Reizstoffen in die Lunge und der Ausscheidung aus der Lunge hingegen kann zu einem erhöhten Risiko für Entzündung der Lunge führen.

Punkt 3

Die Dysphagie-Spezialistin und das medizinische Team sollten alle für eine Person spezifischen Variablen berücksichtigen, da die Betrachtung der Aspiration allein nicht ausreicht. Alle nachfolgenden Variablen sind für die klinische Entscheidung über die Ernährung einer Person mit Dysphagie-assoziierter Aspiration von Bedeutung. Die untenstehenden Variablen können dem Dysphagie-Team helfen, um

 

  • das mit der oralen Aufnahme verbundene Gesamtrisiko für Personen mit prandialer Aspiration zu bewerten
  • festzustellen, ob diese Faktoren modifizierbar sind.

Punkt 4

Das von Palmer & Padilla (2021b) vorgeschlagene B-O-L-U-S-Konzept organisiert die Variablen in einem leicht zu merkenden System.

 

Das Konzept kann die Aufklärung des Patienten, Gespräche mit Angehörigen und den komplexen Prozess rund um eine Einwilligungserklärung der Person mit Dysphagie und Absprachen mit dem Rest des medizinischen Teams strukturieren und erleichtern. 

 

Fragen, die im B-O-L-US-Konzept mit JA beantwortet werden, weisen auf ein erhöhtes Risiko eines unerwünschten Ereignisses (Aspirationspneumonie, akutes Atemnotsyndrom, Lungenfibrose und sogar Tod) bei Menschen mit Dysphagie und Aspiration hin.

Punkt 5

Das B-O-L-U-S-Konzept kann für das Dysphagie-Management und die klinische Entscheidungsfindung angewendet werden. So vergleichen Palmer & Padilla in ihrem Artikel zwei Patienten, die beide aspirieren, deren Probleme und Unterstützungssysteme jedoch sehr unterschiedlich waren. Bei der ersten Person handelte es sich um einen 36-Jährigen mit akuter Dysphagie infolge eines Schädel-Hirn-Traumas, der erhebliche Sicherheits- und Effizienzprobleme hatte (erhebliche stille Aspiration mit einem Penetration Aspiration Scale/PAS-Score von 8) und kompensatorische Strategien waren erfolglos. Diese Person war jedoch nicht bettlägerig und verfügte über starke familiäre Unterstützung und Hilfe bei der Nahrungsaufnahme. Die zweite Person hatte Spuren von Aspiration bei allen flüssigen Konsistenzen (mit einem PAS von 7). Allerdings war diese Person bettlägerig und lebte in einer Langzeitpflegeeinrichtung. Zu ihrem Gesundheitszustand gehörten sauerstoffabhängige COPD, eingeschränkte Kognition, schwacher Hustenstoss, schlechter oraler Zustand und Abhängigkeit vom Personal der Einrichtung bei der Mundpflege. Anhand des BOLUS-Leitfadens fällt die Empfehlung zur Ernährung beiden Patienten trotz ähnlichen PAS-Werten unterschiedlich aus.

Anmerkungen von Karen Sheffler

Die Autoren haben in ihrem Tutorial von 2021 darauf hingewiesen, dass das BOLUS-System die Faktoren Lebensqualität, Versorgungsziele des Einzelnen und die Einflüsse der Kultur der Person nicht speziell berücksichtigt. Dies sind jedoch zusätzliche, kritische Faktoren, die das Team bei der ganzheitlichen Abwägung von Risiken und Nutzen in der Entscheidungsfindung  berücksichtigen muss.

Videotutorial von Phyllis M. Palmer & Aaron H. Padilla

Teil I in Englisch

Teil II

Teil III

Literaturhinweise

  • Palmer, P. M., & Padilla, A. H. (2022). Risk of an Adverse Event in Individuals Who Aspirate: A Review of Current Literature on Host Defenses and Individual Differences. American journal of speech-language pathology, 31(1), 148-162.

  • Weitere Literatur zu den einzelnen B-O-L-U-S-Bereichen finden Sie hier

Herzlichen Dank an die Autoren

Phyllis M. Palmer, PhD, CCC-SLP, von der Universität New Mexico, Swallowing and Voice Lab, arbeitete 10 Jahre lang als Klinikerin in verschiedenen medizinischen Bereichen, bevor sie an der Uni von Iowa promovierte. In ihrer Lehrtätigkeit konzentrierte sie sich auf die Diagnostik und Therapie der Schluckfunktion. Dr. Palmers Forschung konzentriert sich vor allem auf die orale, pharyngeale und laryngeale Motorik in Bezug auf das Schlucken bei gesunden Personen und Personen mit verschiedenen Störungen.

 

Aaron H. Padilla, MS, CCC-SLP ist Sprachpathologe in der Akutversorgung bei Presbyterian Healthcare Services. Er hat seinen Master an der University of New Mexico abgeschlossen. Zu seinen Forschungsinteressen gehören Dysphagie-Management und kulturelle Überlegungen.

 

 

Übersetzung durch Sabina Hotzenköcherle,  Februar 2021